Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Und trotzdem ist hier etwa jede*r Sechste von Armut bedroht.
Dabei können wir aus der Armut nicht einfach rauswachsen: Trotz Wirtschaftsboom und Beschäftigungsrekorden vor der Pandemie ist eine zunehmende Verfestigung von Armut und eine starke Polarisierung sozialer Lebenslagen zu beobachten.
Die Ungleichheit der Verteilung privaten Vermögens in Deutschland die höchste in der Eurozone. Laut einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
besitzen die oberen zehn Prozent knapp zwei Drittel des gesamten privaten Nettovermögens,
Auch in Hinblick auf die Einkommensverteilung zeigt sich eine ähnliche Tendenz:
Mit der zunehmenden Polarisierung sozialer Lebenslagen nimmt auch die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Position zu. Armut ist dabei so viel mehr ist als der bloße Mangel an Geld. Sie bedeutet für die Betroffenen ständigen, unfreiwilligen Verzicht, fehlende gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung und erzeugt nicht selten Existenzängste, Scham und gesellschaftliche Stigmatisierung.
Ich hab jedenfalls permanent das Gefühl, dass ich nicht so ganz dazugehöre und dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die anderen erkennen, wie blöd ich bin, dass ich hier gar nichts verloren habe.
Dennoch wird über Armut und Reichtum in ökonomischen, politischen oder sozialen Zusammenhängen, kaum aber im Kontext der Antidiskriminierungsarbeit gesprochen.
Bildquelle: Matthias Vogt, dobeq, AWO Unterbezirk Dortmund, gezeichnet für das Projekt „Zukunft mit Herz gestalten“
Die Überwindung von Armut und sozialer Ungleichheit im Sinne von Chancengerechtigkeit ist eines der Kernanliegen der AWO. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig auf die existierenden sozial- und gesellschaftspolitischen Problemlagen hinzuweisen und Positionen sowie Forderungen zu entwickeln – als gesellschaftspolitische Akteurin, aber auch als Organisation, die sich aktiv in gesellschaftliche Diskurse einbringt und Diskriminierung jeglicher Art in den eigenen Strukturen und in der Gesellschaft bekämpfen möchte.
Klassismus als Diskriminierungsform ist vielen Menschen noch nicht sehr vertraut. Daher muss auch in den Strukturen der AWO stärker für Klassismus sensibilisiert werden. Dazu gehört auch, die eigenen Haltungen und Strukturen zu hinterfragen. Einige der „Zusammenhalt durch Teilhabe“ Projekte befassen sich aktuell intensiv mit dem Thema und setzen Fortbildungsformate um, die offen sind für Interessierte – z.B. der monatlich stattfindende Antiklassitische „Klassen-Treff“ des Projektes „Zukunft mit Herz gestalten“ in Dortmund und einzelne der Demokratiewerkstätten des bayerischen Projektes „AWO l(i)ebt Demokratie“. Mehr Informationen dazu hier.
Eine aktive Auseinandersetzung mit Klassismus kann beispielsweise auch möglich werden, indem eine diskriminierungskritische Leitlinie in der eigenen Organisation entwickelt wird, in der auch Klassismus in den Blick genommen wird.
Zudem sollten Menschen mit Kassismuserfahrungen gestärkt werden. Dazu können Empowermenttrainings für Betroffene organisiert und auch – im Sinne der eigenen Sensibilisierung – eine Teilnahme daran geplant werden.
Befördert werden könnte auch der Zusammenschluss von Menschen mit Klassismuserfahrungen, beispielsweise indem Gemeinschaften Räume angeboten werden, um sich über Erfahrungen auszutauschen und die Vereinzelung zu verhindern.
Über Klasse sprechen und akzeptieren, wo wir stehen – ist ein notwendiger Schritt, wenn wir in einer Welt leben wollen, in der Wohlstand und Reichtum geteilt werden können und in der Gerechtigkeit sowohl in unserem öffentlichen als auch privaten Leben verwirklicht werden kann.
bell hooks (2020): Die Bedeutung von Klasse. Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus und Sexismus zu reduzieren sind. Unrast Verlag.
Die AWO setzt sich mit ihren Positionen und Forderungen dafür ein Armut zu bekämpfen und der gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken.
Es braucht aus Sicht der AWO eine Gesamtstrategie gegen Armut und Ungleichheit unter Beteiligung von Menschen, die Armut selbst erfahren. Der Sozialstaat muss für Sicherheit und langfristige Perspektiven sorgen, um vor Armut zu schützen. Viele Menschen erleben, dass ihr Einkommen nicht mehr verlässlich vor Armut schützt und sie machen sich Sorgen, wie sicher ihr Job in Zukunft noch ist. Daher braucht es auch Bemühungen für Würde, Wert und Zukunft der Arbeit. Darüber hinaus braucht es mehr individuelle Unterstützung für Betroffene, damit sie beispielsweise auch nach längerer Arbeitslosigkeit Zugang zur Arbeitswelt finden. Eine starke Soziale Arbeit, die jeden einzelnen Menschen ganzheitlich in den Blick nimmt und passgenau unterstützt, leistet hier einen wichtigen Beitrag.
Als Reaktion auf den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und die Verschärfung von Ungleichheiten in der Corona Pandemie fordert die AWO, die Tarifbindung zu erhöhen und prekäre Beschäftigung einzudämmen, um Armut entgegenzuwirken. Zudem gilt aus Sicht der AWO, die Umverteilungswirkung des Steuer- und Transfersystems zu erhöhen. Auch Organisationen wie taxmenow, eine Initiative von Vermögenden oder das Netzwerk Steuergerechtigkeit kämpfen für eine gerechtere Steuerpolitik.
Eine wichtige Aufgabe ist die Herstellung von Gerechtigkeit im Kontext von Bildungschancen unabhängig der sozialen Herkunft und Position. Die aktuelle AWO-ISS-Studie (siehe auch Literaturtipps) zeigt, wie armutsbedingte Benachteiligungen hinsichtlich der Bildungschancen wirken. Das Bildungssystem darf sich nicht damit abfinden, dass Schüler*innen aufgrund ihrer sozialen Herkunft auf ihrem Bildungsweg benachteiligt werden. Bildung ist der Schlüssel zur Ausbildung, zum Arbeitsmarkt, zum selbstbestimmten Leben, zur gesellschaftlichen Akzeptanz, Teilhabe und zur Chancengerechtigkeit. Gerechte Bildungsbeteiligung fängt im frühen Kindesalter an und wird beispielsweise durch kostenfreie Krippen und gute Ganztagsschulen ermöglicht. Aus den vielfältigen Befunden der AWO-ISS-Langzeitstudie und den identifizierten sozial- und familienpolitischen Handlungserfordernissen leiten sich verschiedene Forderungen der Arbeiterwohlfahrt ab, die in diesem Papier nachzulesen sind.
Nicht zuletzt braucht es auch mehr Gehör für und Sichtbarkeit von armutsbetroffenen Menschen.
Die Stimmen von Menschen, die Hilfe und Unterstützung in komplexen Lebenslagen brauchen – Alleinerziehende, alte Menschen, kranke Personen, beeinträchtigte Menschen, Flüchtlinge u. a. –, müssen in Bildungskontexten, Politik und Wissenschaft hörbar und sichtbar werden, damit andere gesellschaftliche Perspektiven entstehen können.
Die Stigmatisierung von armutsbetroffenen Menschen muss beendet werden. Dafür braucht es nicht zuletzt auch ein gesellschaftliches Umdenken und das Bewusstsein, dass Armut kein individuelles Versagen ist, sondern als gesellschaftliches Problem zu verstehen ist.
(alle angegebenen Links wurden abgerufen zuletzt am 28.10.2021)