Soziale Ungleichheit im Gepäck: Das ist Klassismus

Ein verbreitetes Denkmuster in Teilen unserer Gesellschaft ist, dass soziale Benachteiligung selbstverschuldet sei und es eigentlich doch jede*r selbst aus seiner/ihrer Misere herausschaffen könne. In einer solchen Vorstellung zeigt sich Klassismus, eine Form von Diskriminierung aufgrund der sozio-ökonomischen Herkunft und Lebenslage von Menschen.

Zur sozio-ökonomischen Herkunft gehört neben dem Einkommen auch das Vermögen, auf das Menschen zugreifen können. Aber auch Wohnverhältnisse, der Bildungshintergrund, die Möglichkeiten kultureller Bildung und das soziale Umfeld, in dem Menschen geprägt werden, bestimmen die sozio-ökonomische Lage.

Es geht also bei Klassismus nicht nur um die Frage, welche materiellen Ressourcen ein Mensch zur Verfügung hat, sondern auch welchen Status und in welchen finanziellen Verhältnissen er oder sie aufgewachsen ist.

Der Begriff „Klassismus“ wird analog zu Rassismus, Antisemitismus oder (Hetero-) Sexismus als eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform definiert.

„Kultur der Respektlosigkeit“, Heike Weinbach, Migrazine (2014)

Wer ist von Klassismus betroffen?

Klassismus muss als ein System begriffen werden, in dem alle Menschen involviert sind: Ein Teil ist privilegiert, andere sind benachteiligt, indem die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse erschwert und Lebensweisen gesellschaftlich verpönt oder unsichtbar gemacht werden.

Von Klassismus betroffen sind Menschen mit vergleichsweise wenig Vermögen, Einkommen, Bildung und Beziehungen sowie Erwerbslose, Wohnungslose und Studierende aus einem Arbeiter*innenhintergrund. Diese Form der Diskriminierung wird in gesellschaftlichen und  politischen Debatten aber auch in der Anti-Diskriminierungsarbeit bisher noch wenig thematisiert.

Diskriminierung zeigt sich hier z.B. auf der individuellen Ebene in der Verspottung von einkommensärmeren und formal weniger gebildeten Menschen oder darin, solche zum Sündenbock für gesellschaftliche Probleme zu erklären oder sich über sie zu empören. Klassismus wirkt aber auch institutionell, strukturell und in der Sprache. Beispiele dafür sind diskriminierende Sprache gegenüber Sozialleistungsempfänger*innen, die Vertreibung von Wohnungslosen aus deutschen Städten und stereotypisches Denken über einkommensärmere oder erwerbslose Menschen.

Klassismus verhindert gesellschaftliche Teilhabe

Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz wird die soziale Herkunft und Position übrigens nicht als Diskriminierungsdimension erfasst. Allerdings bestimmt die soziale Herkunft und Position maßgeblich mit über die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe.

Die Entwicklungen von Bildungsbiografien zeigen, dass die soziale Herkunft mit struktureller Benachteiligung einhergeht: Während 74 Prozent der Kinder aus einem Akademiker*innen-Haushalt nach der Schule ein Studium beginnen, beginnen lediglich 21 Prozent der Kinder, die aus Nicht-Akademiker*innen-Haushalten stammen nach der Schule ein Studium. Armut erschwert oder verhindert den Bildungsaufstieg. Die Bildungschancen hängen in Deutschland  stark von der sozialen Position der Herkunftsfamilien ab und trotz formaler Chancengleichheit führt unser Bildungssystem zu Bildungsbenachteiligung.

Menschen berichteten von Diskriminierung, denen sie als Arbeiter*inkinder an Schulen und Hochschulen ausgesetzt waren, von Schikanen durch Jobcenter und Arbeitsagenturen. Von Scham und Sprüchen wie: „Du gehörst doch eh nicht aufs Gymnasium“ und Vorwürfen „du hast dich einfach nur nicht richtig angestrengt.“

Francis Seeck (2018) „Von #unten und #oben – Wir müssen übers Erben sprechen“

Klassismus erfüllt dabei wie andere Diskriminierungsformen auch eine Funktion: nämlich die der Abwertung, Ausgrenzung und Ausbeutung von Menschen. Dies hat Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Netzwerken, Teilhabe, Anerkennung und Geld.

Ohne Rechtfertigungsideologien lassen sich ökonomische Ungleichheitsstrukturen zumindest in Demokratien nicht aufrechterhalten. Denn die ungleiche Verteilung von Ressourcen bedarf der argumentativen Begründung. Klassismus beinhaltet daher auch ein diskursives Begründungsmuster, um bestimmte Bilder über Menschen zu legitimieren, deren Anteil an gesellschaftlichen und materiellen Gütern gering gehalten wird.

Heike Weinbach „Kultur der Respektlosigkeit“

Klassismus ist gleichzeitig Ursache und Wirkung von sozialer bzw. ökonomischer Ungleichheit und bewirkt, dass unsere Gesellschaft sich weiter in „Verlierer*innen“ und „Gewinner*innen“ spaltet und damit von dem Gedanken des Zusammenhalts und der Solidarität entfernt.

Bildquelle: Matthias Vogt, dobeq, AWO Unterbezirk Dortmund, gezeichnet für das Projekt „Zukunft mit Herz gestalten“

Hintergrund des Klassismus Begriffes

Klassistische Diskriminierung und Gewalt haben eine lange Tradition. So wurden z.B. in der Zeit des Nationalsozialismus als „asozial“ Stigmatisierte, z. B. Bettler*innen und Sexarbeiter*innen, mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet und in Konzentrationslager verschleppt.

Der Begriff Klassismus wurde aus dem US-amerikanischen Kontext („classism“) ins Deutsche übernommen und wird als eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform definiert. Geprägt wurde der Begriff durch Gruppen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind: zum Beispiel Gruppen innerhalb der Frauenbewegung oder der Schwarzen Bewegung, die Klassismus erfahren. Insbesondere Schwarze und lesbische Feministinnen aus der Arbeiter*innenbewegung brachten den Begriff in den USA der 1970er Jahre in die Debatten ein. Erste Aufzeichnungen des Begriffs finden sich 1974 in den Veröffentlichungen der Lesbengruppe The Furies, in der Arbeiter*innentöchter mit unterschiedlichen Rassismus- und Heterosexismus-Erfahrungen ihre Diskriminierung aufgrund ihrer sozialen Herkunft thematisierten.

Dem Klassismusbegriff liegt das Bewusstsein zugrunde, dass verschiedene Gruppen in der Gesellschaft ein erhöhtes Armutsrisiko haben, wie zum Beispiel alleinerziehende Mütter oder von Rassismus betroffene Menschen  und dass sich dabei häufig verschiedene Diskriminierungsformen mit Klassismus überschneiden (Intersektionalität).

Bei der Klassenzugehörigkeit geht es nicht nur um die ökonomische Position (Eigentum und Vermögen), sondern auch kulturelles (Bildungsabschlüsse) und soziales Kapital (Beziehungen). Dabei werden auch bestimmte Abwertungserfahrungen auf individueller, institutioneller, kultureller und politscher Ebene beschreibbar – wenn z.B. Rechte verweigert oder Lebensweisen nicht anerkannt und nicht sichtbar werden.

In Westdeutschland gründeten sich Ende der 1980er-Jahre „Proll-Lesbengruppen“, Vertreterinnen der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, von denen antiklassistische Interventionen in der Frauen- und Lesbenbewegung ausgingen. Auch die Proteste gegen die Hartz-IV-Reformen vor ca. 15 Jahren können als Ausdruck antiklassistischer Bewegungen betrachtet werden.

Trotz verschiedener antiklassistischer Bewegungen ist Klassismus noch immer weitestgehend unsichtbar. Stattdessen hält sich der Mythos, dass jeder Mensch „erfolgreich“ sein kann, er/sie muss es „nur wollen und sich anstrengen“. Tatsächlich aber sind Vermögen und Einkommen in Deutschland und damit auch die Teilhabechancen extrem ungleich verteilt.

Dass es kein Aufbegehren gibt, hat auch mit Klassismus zu tun.

Francis Seeck, Missy Magazine 2020

So bewirkt Klassismus, dass Betroffene ihr vermeintliches Scheitern als selbstverschuldet wahrnehmen und die politische und strukturelle Dimension ihrer Armut und Benachteiligung nicht erkennen. Gleichzeitig empfinden privilegierte Menschen, die beispielsweise große Vermögen erben, dies als ihre Leistung und ihren Verdienst. So wird soziale Ungleichheit (genau genommen ist es eher eine ökonomische Ungleichheit) aufs Neue reproduziert und Menschen werden aufgrund ihrer sozialen Herkunft an der gesellschaftlichen Teilhabe behindert.

In einem weiteren Blogbeitrag „Klassismus, soziale Ungleichheit und die Bedeutung in der AWO“ vermitteln wir einige Fakten zur sozialen Ungleichheit in Deutschland sowie die Bedeutung für die AWO.

Quellen

(alle angegebenen Links wurden abgerufen zuletzt am 28.10.2021)